Cradle-to-Cradle-Vision
Jährlich landen allein in der EU laut Statistikamt rund drei Milliarden Tonnen hochwertiger Stoffe auf Müllhalden und in Verbrennungsanlagen, Tendenz steigend. Das Konzept des „Cradle-to-Cradle“ (C2C), ins Deutsche übersetzt: „Von der Wiege zur Wiege“, will dieses Übel an der Wurzel packen. Es ist die Vision einer abfallfreien Wirtschaft, bei der Firmen keine gesundheits- und umweltschädlichen Materialien mehr verwenden und alle Stoffe dauerhaft Nährstoffe für natürliche Kreisläufe oder geschlossene technische Kreisläufe sind. Kompostierbare Textilien, essbare Verpackungen, reine Kunststoffe oder Metalle, die unendlich oft für denselben Zweck verwendet werden können – so soll die Zukunft aussehen.Das „Cradle-to-Cradle“-Konzept haben der deutsche Chemieprofessor, Verfahrenstechniker und Ökovisionär Michael Braungart und der US-Architekt William McDonough entwickelt. Scharf kritisieren sie seither die Effizienzorientierung der Wirtschaft, denn: „Falsches effizient gemacht, wird nicht richtig, sondern erhöht den Schaden.“ Sie argumentieren unter anderem damit, dass nahezu kein Produkt für Innenräume gemacht sei, weswegen Innenraumluft viel stärker belastet sei als die Außenluft in Städten. „Wollen wir 4360 Chemikalien im Wohnzimmer oder nur fernsehen?“ fragt der Chemiker Braungart, der vor Jahren so viele Substanzen in einem TV-Gerät fand. Intelligentes Produktdesign müsse effektiv sein, das Richtige machen und könne in allen Branchen, Produktlebenszyklen und Wertschöpfungsketten wirkliche Umweltfreundlichkeit erreichen.
Unternehmen wandeln die Vision in Realität – öko-sozial und wirtschaftlich erfolgreich
Produkte als Nahrung - was wie Öko-Spinnerei klingt, halten inzwischen zahlreiche Geschäftsführer und Vorstände von Firmen aus unterschiedlichen Branchen angesichts der Umweltkrise für das einzig zukunftsfähige Wirtschaftsprinzip. Sie sind überzeugt, dass es nur mit dieser Ökovision gelingen wird, Mitte des Jahrhunderts neun Milliarden Menschen auf der Erde lebenswert zu versorgen. Und dass Hersteller, die sie früh umsetzen, im Wettbewerb die Nase vorne haben.
Das Konzept ist aber nicht nur eine Ökovision, sondern eine gesunde Umwelt wird als Basis für soziale Gerechtigkeit angesehen. Darum ist auch die soziale Seite der Rohstoffgewinnung zu prüfen. Wirtschaftlichen Erfolg mit Cradle-to-Cradle beweisen bereits Unternehmen verschiedenster Branchen: Hersteller von Textilien und Bodenbelägen, einige der größten Möbelhersteller Welt, Chemieunternehmen, Holzhaus-Firmen, Kosmetik- und Reinigungsmittelunternehmen, eine Containerschiffs-Reederei sowie Firmen anderer Branchen, auch erste Elektronikhersteller befassen sich damit. Seit 2010 lassen sich Produkte nach C2C zertifzieren.
Teilweise haben Unternehmen ihr Geschäftsmodell komplett geändert, was beispielsweise bedeutet, dass sie ausgediente Produkte zurücknehmen und „richtig“ recyceln. Recyceln ist üblicherweise „downcyceln“, wodurch aus einem höherwertigen Produkt ein niedrigwertiges Produkt wird. Recycling nach dem C2C-Prinzip bedeutet, dass das Material ohne Qualitätsverlust immer wieder für dasselbe Produkt wiederverwendet werden kann und auch wird, weil es sich um reine Materialen (z.B. reine Kunststoffe, pures Holz) handelt. Aus einer Rückenlehne wird wieder eine Rückenlehne, aus einem Teppich ein Teppich derselben Qualität. Manche Firmen haben sich vom Produkthersteller zum Anbieter von Dienstleistungen gewandelt, was die Herstellung der jeweiligen Produkte weitgehend überflüssig machte. Manche erweiterten ihr Angebot an Dienstleistungen durch Produkte, so wurde etwa ein Abfallunternehmen zum Hersteller von Altglasrohlingen, aus denen Trinkgläser gemacht werden können.
Inzwischen gibt es auch Betriebe, die ausgediente Materialien „up-cyceln“, beispielsweise indem sie aus alten Textilien hochwertige, moderne Bekleidungsstücke schneidern. Noch steht die Umsetzung dieses Ansatzes am Anfang einer Entwicklung.
Gefährliche Stoffe lassen sich aber nicht völlig vermeiden. Ohne sie ist beispielsweise die gesamte moderne Kommunikations- und Datenverarbeitungstechnologie nicht möglich. Entscheidend ist darum, dass Giftstoffe nicht in die Umwelt gelangen, sondern in reiner Form in geschlossenen industriellen Kreisläufen bleiben und die Außenwelt in keinster Weise mehr belasten. Selbst wenn es in einigen Ländern Kreislaufgesetze und Mülltrennung gibt, so ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität jedoch noch weit von der Wiedernutzung sämtlicher Rohstoffe entfernt. Insbesondere im städtischen Müll sind hochwertigste Rohstoffe enthalten, die ungenutzt bleiben. Das liegt unter anderem daran, dass viele Produkte aus Verbundmaterialien oder aus Mischungen, z.B. Kunststoffmischungen, bestehen, die echtes „Recycling“ erschweren. Der Kostenaufwand ist immer noch teurer als der Einsatz von fossilen oder frisch abgebauten Rohstoffen.
Angesichts steigender Rohstoffkosten und in manchen Bereichen (teils künstlich geschaffenen) Rohstoffknappheiten gewinnt die Wiedergewinnung von Rohstoffen aus städtischem Müll unter dem Begriff „urban mining“ zunehmend an Bedeutung. Hieraus könnten sich Ansätze für weitere Cradle-to-Cradle-Geschäftsmodelle ergeben.
Die Politik spielt für Cradle-to-Cradle eine wichtige Rolle
C2C ist auch eine Herausforderung für die Politik: zum einen Bedarf eine echte Kreislaufwirtschaft im oben genannten Sinne politischer und/oder rechtlicher Anreize. Zum anderen existieren manchmal Absatzprobleme für C2C-Produkte, weil schädliche Stoffe erlaubt und wegen massenhaftem Einsatz billiger sind als die Innovationen. Die Politik müsste Innovationen erleichtern und fördern und nur ungefährliche Stoffe als Ausgangsstoffe zulassen, fordern die C2C-Verfechter. Die Niederlande haben sich auf diesen Weg gemacht: Regierung und Parlament in Den Haag haben vor wenigen Jahren beschlossen, dass die gesamte öffentliche Beschaffung in Höhe von rund 40 Mrd. Euro ab 2010 nach nachhaltigen Kriterien ausgerichtet ist.
Das Umweltministerium wollte gar bis 2012 eine hundertprozentige C2C-Einkaufspolitik erreichen. Noch ist das unter anderem wegen einer noch unzureichenden Produktpalette nicht umgesetzt, aber das Ziel bleibt bestehen. Das Cradle-to-Cradle-Konzept wird aber erst vereinzelt berücksichtigt in Monitoring-Berichten zu Branchen, etwa Anfang 2013 zur Verpackungsindustrie (http://www.rijksoverheid.nl/documenten-en-publicaties/rapporten/2013/01/24/rapport-nedvang-monitoring-verpakkingen-resultaten-2011.html) oder Ende 2012 im Bericht zum 2010 beschlossenen Green-Deal-Projekt.
Die niederländische Provinz Limburg hat sich zur Modellregion erklärt und entwickelt ein innovatives Gewerbegebiet namens GreenPark Venlo als Leuchtturm-Projekt, auf dem Gelände der Weltgartenausstellung Floriade, die 2012 in Venlo nahe der niederländisch-deutschen Grenze stattfand. Die Gebäude orientieren sich an C2C-Kriterien, das Gelände soll völlig unabhängig vom nationalen Strom- und Erdgasnetz sein, architektonische Blickfänge gelten als Musterbeispiele für Nachhaltigkeit und Innovation. Seit Ende der Ausstellung im Oktober wird ein Großteil des Geländes als grüner Businesspark weiter entwickelt. Unternehmen werden nicht mehr nach Branchen getrennt, sondern die Standorte so gemischt, dass die Firmen voneinander profitieren. So soll die Abwärme des einen Betriebs den Wärmebedarf des anderen decken, Reststoffe des einen die Rohstoffversorgung des anderen, Produktinnovationen werden gemeinsam entwickelt. Die Städte Maastricht und Meerssen orientieren an dem Konzept ihr Stadtentwicklungsprojekt mit dem zwei Kilometer langen A2-Tunnel, um bestehende ökologische, soziale und wirtschaftliche Probleme zu lösen.
Die belgische Ratspräsidentschaft setzte 2010 darauf, einen Cradle-to-Cradle Ansatz bei der Ressourcenverwaltung im Herstellungssektor zu fördern. Während Neuseeland darüber diskutiert will auch Kalifornien zum C2C Staat werden.
Effektivität versus Effizienz
Verfechter von Rohstoffeffizienz äußern sich differenziert zu dem Konzept. „Gut ist der Ansatz, dass unser Wirtschaftssystem ganz anders sein könnte. Welche Produktionsweise wir eigentlich haben wollen, müssen wir gemeinsam diskutieren und entwickeln“, heißt es beim Wuppertal Institut für Klima Umwelt Energie. Die Botschaft sei gut, da alles möglich scheine und attraktiv wirke. Allerdings sei es bis dahin noch ein weiter Weg - und darum sei auch Ressourceneffizienz als Zwischenschritt dringend erforderlich. Politik und Unternehmen sollten rasch ressourcenleichtes Wirtschaften vorantreiben. Ressourcenleichtes Vorantreiben bedeutet, dass mit einem Bruchteil der zuvor eingesetzen Rohstoffe dieselben Produkte oder Dienstleistungen hergestellt und angeboten werden.
Der Wissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker hat hierfür gemeinsam mit Carlson Hargroves und Michael Smith das Faktor-5-Konzept entworfen, wonach, kurz gesagt, die Ressourcenproduktivität um das fünffache erhöht werden kann. Im ihren 2010 erschienen Buch „Faktor Fünf“ zeigen sie, dass die Menschheit praktisch quer durch die Wirtschaft fünfmal effizienter werden kann im Umgang mit Energie, Rohstoffen, Wasser. Teilweise ist sogar der Faktor 10 möglich, wie ihn Wissenschaftler Friedrich Schmidt-Bleek, Gründer des Faktor 10 Institutes in Frankreich, propagiert. Beispiele sind Passivhäuser oder der Wechsel von Glühbirnen zur LED-Beleuchtung. Statt energieintensiven Portland Zement könne Geopolymerzement z.B. mit Flugasche aus Kraftwerken eingesetzt werden.
Damit Derartiges systematisch in allen Branchen in die Tat umgesetzt wird, müssten allerdings Politik und Kultur deutlich verändert werden. Eine große Herausforderung ist der sogenannte Rebound-Effekt: Zwar nimmt die Energieintensität ab, doch durch Mehrproduktion und Mehrkonsum steigt der Energieverbrauch. Besonders drastisch ist der Rebound Effekt, wenn Energie und Rohstoffe billiger werden – laut Weizsäcker tun sie das seit 200 Jahren. So müssten die Rohstoffpreise die, so Weizsäcker, „ökologische Wahrheit“ sagen, das heißt die externen Kosten (Umweltbelastungen, soziale Folgen) des Rohstoffabbaus müssten in die Preise integriert werden. Die dann steigenden Rohstoffpreise würden eine viel bessere Ressourcennutzung bewirken.
Handfeste Argumente für eine bessere Ressourcennutzung gibt es genug: Rohstoffknappheit, Verteilungsungerechtigkeit, ökologische und soziale Probleme der Rohstoffgewinnung sowie Exportabhängigkeit und zunehmende Konflikte um Ressourcen.
Interne Links
Externe Links
Handelsblatt-Artikel
Faktor-X
Prof. Michael Braungart und das EPEA Internationale Umweltforschung GmbH
Zur C2C-Zertifizierung
Österreichisches C2C-Netzwerk
cradle to cradle e.V.